© Titus Nessel, 2016

Die Orgel der Herrenhäuser Kirche

Die zweite Orgel

Der Orgelneubau 1967

Die neue Orgel bekam einen anderen Standort, aus akustischen Gründen einige Meter vor dem alten Platz auf der Westempore. Diese Empore wurde – entsprechend den Erfordernissen der gottesdienstlichen Kirchenmusik – umgestaltet. Aus diesem Grund entschied man sich gegen den Bau eines Rückpositivs, das die Platzverhältnisse auf der Empore eingeengt hätte. Die Orgelbaufirma Gebrüder Hillebrand baute nach klassischen Gesichtspunkten, die von verschiedenen Typen des barocken Orgelbaus abgeleitet sind, eine mechanische Schleifladenorgel mit Hauptwerk, Oberwerk, Brustwerk und Pedal. Die Orgel erhielt eine elektrische Registrieranlage.

Die Kirche war 1962 innen umgestaltet worden. Dabei wurde die gesamte Jugendstilmalerei an den Wänden mit hellgrauer Farbe überstrichen. Die Ornamentik an der Holzausstattung der Kirche verschwand hinter einer Vertäfelung. Die Herrenhäuser Kirche wurde zu einem sehr schlichten Versammlungsort. Im Jahre 1962 galt dies als "modern".  Die Akustik war in diesem Zuge durch schallabsorbierende Maßnahmen "trockengelegt" worden. In diesen Raum hinein wurde die Orgel geplant und intoniert.

Ihr  Klangbild war und ist von barocken Vorbildern geprägt – im Gegensatz zur alten Orgel von Furtwängler und Hammer. Im Unterschied zur letzteren hat sie jene "Raumlinienstärke", die im polyphonen Spiel jede einzelne Stimme deutlich hörbar macht. Jedoch ist die Hillebrand-Orgel von 1967 nicht als Barockorgel anzusehen, denn in den 30er, 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts entstand besonders in Deutschland ein neuer Typ von Orgel, den wir heute als "neobarocke Orgel" bezeichnen. Diesen neuen Vorbildern wurde auch die Hillebrand-Orgel nachempfunden.

Die besten fünf Register der alten Orgel wurden in den Neubau übernommen. Wegen knapper, finanzieller Mittel nahm man für die Prospektpfeifen des Prinzipals 16' und 8' Kupfer anstatt, wie ursprünglich geplant, Zinn. Das sollte sich als Glücksgriff erweisen. Die Klangdifferenz ist unerheblich, aber die roten Pfeifen prägen das individuelle Design der Herrenhäuser Orgel. Doch aus Sparsamkeitsgründen wurden auch grundsätzliche Fehler gemacht – mit schwer wiegenden Folgen. Für die Zungenpfeifen wurde gewalztes anstelle von gegossenem Material verwendet. Sie fielen bald um bzw. sackten in sich zusammen. Die Windladen wurden nicht ausreichend gegen Schwankungen der Temperatur und Luftfeuchtigkeit geschützt. Es bildeten sich folglich Risse in den Laden. Des Weiteren wurden kurzlebige Kunststoffe verwendet. Die Intonation nahm man mit einem zu schwachen Orgelgebläse vor, das offensichtlich noch aus der alten, kleineren Orgel stammte.

Dennoch sollte die Orgel bei den "Herrenhäuser Kirchenmusiktagen" mit Matthias Kern eine bedeutende Rolle spielen. Störungen beim Musizieren blieben jedoch nicht aus. Die gut gemeinte Sparsamkeit hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Schon 20 Jahre später musste man an eine Restaurierung denken, die die Fehler beseitigen sollte. Da man in den 80er Jahren damit begonnen hatte, die ursprüngliche Innenraumarchitektur im Sinne des Jugendstils wieder herzustellen – womit auch die oben erwähnten Schallschluckmaßnahmen wegfielen – musste spätestens jetzt eine Neuintonation der Orgel geplant werden.

Zweite Orgel 1967
Herrenhäuser Kirche, Innenraum von 1967 mit neuer Orgel und ohne Radleuchter, sachlich und „modern“

Restaurierung und Optimierung

1993 wurde die Orgel  im Sinne des Neubaus von 1967 optimiert, ihre Disposition blieb weitgehend erhalten. Die Fehler sollten beseitigt werden, eine Neuintonation für die wieder hergestellte Akustik von 1906 erfolgte. Ferner wurde eine computerunterstützte Registrieranlage ("Setzerkombinationen") eingebaut. Die Erbauerfirma der Orgel sollte auch diese Arbeiten übernehmen. Die Risse der Windladen wurden verschlossen und sie wurden mit Dehnungsfugen versehen. Die Zungenregister wurden z. T. mit größerer Mensur neu gebaut. Die Abmessungen der Posaune 16' richten sich nun nach der Mensur der Silbermann-Orgel der Dresdner Hofkirche. Alle nicht erneuerten Zungenregister erhielten neue Zungenblätter aus Messing, Windladen eine neue Ventilausstattung. Im Orgelgehäuse wurde für den Stimmer ein bequemer Zugang zum Hauptwerk geschaffen, Bordun 16' und Gemshorn 8' wurden dort besser untergebracht, die Spieltraktur entsprechend verändert.

Im Jahre 2009 wurde die Setzeranlage um das zehnfache erweitert und die Orgel erhielt einen Zimbelstern. Die Orgelbank und die Pedalklaviatur wurden mit einer Heizung für die kalten Monate ausgestattet.

Orgel 2016
© Titus Nessel, 2016

Disposition der zweiten Orgel von 1967

Hauptwerk (I. Manual)

Bordun 16' (1906)
Prinzipal 8'
Gemshorn 8'
Oktave 4'
Koppelflöte 4'
Quinte 2 2/3'
Oktave 2'
Mixtur 6-8f
Bombarde 16'
Trompete 8'

Oberwerk (II. Manual)

Rohrflöte 8'
Quintade 8'
Prinzipal 4'
Hohlflöte 2'
Sesquialtera 2f
Mixtur 3-5f
Zimbel 3f
Trompete 8' (1993)
Oboe 8' (1993)
Tremulant (1993)

Brustwerk (III. Manual)

Holzgedackt 8'
Spitzflöte 4'
Prinzipal 2'
Terzian 2f
Blockflöte 1'
Scharff 4-5f
Vox humana 16'
Krummhorn 8'
Tremulant
 

Pedal

Prinzipal 16'
Subbass 16' (1906)
Oktave 8'
Gedackt 8' (1906)
Oktave 4' (1993)
Offenflöte 4'
Sesquialtera 2f
Feldpfeife 1' (1906)
Hintersatz 4f
Posaune 16' (1993)
Trompete 8'
Trompete 4' (1993)
Zink 2' (1906)

Nebenzüge (Koppeln)

Hauptwerk/Pedal
Oberwerk/Pedal
Brustwerk/Pedal
Oberwerk/Hauptwerk
Brustwerk/Hauptwerk

Schwelltritt für das Brustwerk
Zimbelstern, Tempo variabel

Tastenumfang

Manuale: C – g '''
Pedal: C – f '